Jahrgang 1942, ist Autorin von Hörspielen, Theaterstücken und Filmdrehbüchern. Sie lebt in Wien und Zürich.
Was war der Auslöser für Ihre plötzliche Erkrankung?
Edith Gloor: Verstopfung. Gestelzter ausgedrückt: eine missglückte Defäkation. Ein leichter Bandscheibenvorfall, mit dem ich mich schon viele Jahre bestens arrangiert hatte, kombiniert mit einer verbotenen Körperhaltung, dem sogenannten „Klappmesser" und mit einem Zuviel an „Drücken", kam es zum berühmten „Dreikräfte-Crash, der fast jedem Unfall zugrunde liegt. Die handbreit oberhalb der Taille beschädigte Bandscheibe wirkte wie ein Messer und vermochte die von der Wirbelsäule geschützten Nervenstränge, die das Gehirn mit der unteren Körperhälfte verbinden, fast gänzlich durchzutrennen.
Was waren Ihre ersten Gedanken, als Ihnen klar wurde, dass Sie von einer Sekunde auf die andere, ohne Vorwarnung querschnittsgelähmt sind?
Edith Gloor: Wirklich unmissverständlich ins Bewusstsein aufnehmen konnte ich die Diagnose spät, nämlich erst, als ich 24 Stunden nach dem Unfall und immer noch traumatisiert, auf dem Anamnesebogen das Wort PARAPLEGIE entdeckte. Denken konnte ich vorerst nichts. Es war so, als würde die Zeit stillstehen. Und dann wurde ich von einer mir völlig unbekannten, abgrundtiefen, allumfassenden Traurigkeit ergriffen, die bodenlos, schwarz und unendlich viel größer war als ich.
Sie hatten nur eine Heilungschance von knapp fünf Prozent. Haben die Ärzte Ihnen das so deutlich gesagt? Und nimmt man die Information in ihrer Härte wirklich auf oder wehrt sich das Bewusstsein dagegen?
Edith Gloor: Dass man mir nach der Einlieferung in die Klink und in den ersten Tagen nach der Operation sozusagen keine bis höchstens 5 Prozent Heilungschancen einräumte, habe ich erst 10 Wochen später, beim Verlassen der Klinik und vor Eintreten in die Reha, erfahren. Man hat mir während des Spitalaufenthaltes auf mein diesbezügliches „Nachfragen" immer dieselbe Antwort gegeben: „Wir wissen es nicht; alles ist möglich". In diesen Worten liegt viel Weisheit, Potential und Güte.
Wie ist Ihre Familie mit diesen Schicksalsschlag umgegangen?
Edith Gloor: Meine Familie hat mir von Anfang an und auf natürliche Weise das Gefühl vermittelt, dass sie mit meiner körperlichen Einschränkung, auch wenn diese in ihr je eigenes Alltagsleben eingreifen würde, ja, dass sie damit zurecht käme. Sie hat kein Jammern und keinen dramatischen Klamauk veranstaltet. Das ist wunderbar. Mit dieser Haltung hat sie mich von Anfang an befreit von Scham- und Schuldgefühlen.
Sie haben sich eine 1-jährige Auszeit genommen und sich ganz auf Ihre Genesung konzentriert. Während ihres Aufenthaltes in Spital und Reha wollten sie auch keine Besuche von Angehörigen und Freunden empfangen. War dieses ‚Ausgrenzen‘ nicht schwer für Ihre Nächsten?
Edith Gloor: Meine Kinder und mein Mann, die in der Schweiz leben, waren in Besitz meiner Telefonnummer. Unsere Gespräche fanden ausschließlich nach dem dichten Tagesprogramm, also am Feierabend statt. Dass die anderen Familienangehörigen und meine Freunde meinen Wunsch nach Klausur respektierten, betrachte ich als Liebesbeweis. Viele Mut machende Briefe landeten auf meiner Bettdecke. Über all diese Wochen hinweg konnte ich die emotionale Anteilnahme und die guten Gedanken spüren.
Hatten Sie kein Bedürfnis nach Ablenkung?
Edith Gloor: Nein. Gespräche mit Besuchern, TV- oder Radio-News, Zeitungslektüre und dergleichen mehr, hätten mich immer wieder aus mir selbst heraus getragen und sie hätten den in ganz kurze Intervalle eingeteilten Therapieplan durcheinandergebracht. Der Kosmos, in dem ich nun lebte, war ja ganz neu, also auch interessant für mich. Im Übrigen war es wichtig, zwischen den Therapiestunden zu schlafen oder zu dösen, damit sich das eben Erprobte und neu Programmierte im Gehirn „niederlassen" und dauerhaft installieren konnte. Im alten Griechenland arbeiteten die Heiler ausschließlich innerhalb der Tempelanlagen. Das macht Sinn. Im Tempel werden keine Besuche empfangen, um über das Wetter zu plaudern.
Sie hatten das Glück, dass Sie finanziell abgesichert waren und sich ganz auf Ihre Gesundung konzentrieren konnten.
Edith Gloor: Ja. Was für eine Gnade. Und eben diese komfortablen Umstände, die ich früher irgendwie als selbstverständlich hingenommen hatte, erscheinen mir heute als ein Geschenk, für das ich täglich danke. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass ich nicht Patient erster Klasse war. Ich bin aus Überzeugung „allgemein versichert". Die Behandlung und Betreuung war aber erstklassig. Und das Verhalten meiner Gesundheitsorganisation SWICA auch.
Was waren die schwierigsten Momente während Ihrer Genesung?
Edith Gloor:
a) Als ich zum ersten Mal, verdreckt vom Scheitel bis zur Sohle, im eigen Kot im Bett lag.
b) Als man mir eröffnete, dass ich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens inkontinent bleiben würde. Was sich dann fünf Wochen später als Falscheinschätzung entpuppte.
c) Als ich mich zum ersten Mal mit dem Rollstuhl aus meinem Zimmer hinaus auf den Korridor unserer Abteilung wagte. Da betrat ich zum ersten Mal in meinem Leben die Welt der körperlich Schwerstversehrten, geistig Behinderten und Gequälten.
Sie haben sich vertrauensvoll in die Hände der Neurologie-Spezialisten im Universitätsspital Wien begeben. Woher haben Sie dieses Vertrauen genommen?
Edith Gloor: Ich habe schon bei früheren Unfällen und Klinikaufenthalten gute Erfahrungen gemacht. Und wie bei früheren Klinikaufenthalten, habe ich auch diesmal täglich zu meinem innewohnenden Göttlichen dahin gehend gebetet, dass ich und die mich betreuen, beschützt und im Sinne des Schöpfungsplanes Agierende sind. Das Entscheidende aber war, dass ich von Anfang an nicht nur mit höchstem medizinischem Fachwissen, sondern auch mit emotionaler Zuwendung gepflegt und beraten wurde.
Aber Sie haben auch mit der gedanklichen Heraufbeschwörung von heilenden Bildern ihre Genesung aktiv unterstützt.
Edith Gloor: Ich habe eine Win-win-Situation hergestellt. Ohne Wenn und Aber war ich bereit, das Angebot der Schulmedizin anzunehmen. Diese kann dann optimal „wirken" an und in mir, wenn ich „mein Teil" zur Genesung beitrage, genauer, wenn ICH ideale mentale Bedingungen wie Zuversicht, Gelassenheit und Abwesenheit von Angst herstelle. Die Hirnforschung hat beweisen können, dass Stress, Hass, Zweifel und Hader die Verbindungen zwischen den Nervenzentren im Gehirn erstarren lassen, diese sozusagen immun machen gegenüber neuen Gedächtnisspuren. In meinem konkreten Fall war wichtig, auf zwei Ebenen mit ‚Ein-Bild-ungen‘ zu arbeiten: einerseits auf der pragmatisch physiologischen Ebene mit der Bildgebung muskulärer Abläufe und andererseits auf der metaphysischen Ebene mit Bildgebungen „anderer Art".
Glauben Sie, dass diese mentale Disposition oder wie Sie es sagen, Zuversicht, bei andern Krankheiten, wie zum Beispiel Krebs, auch hilfreich sein kann?
Edith Gloor: Alles, was uns im Leben widerfährt, steht vermutlich in einem größeren Zusammenhang. So gesehen ist alles, was uns im Leben widerfährt, eine Herausforderung, die gepackt werden will. Und da ich die Wirksamkeit heilender Bilder erfahren habe, glaube ich, dass auch chemische Prozesse in unserem Körper beeinflussbar sind.
Sie haben mit Bildern aus unserer Kulturgeschichte gearbeitet.
Edith Gloor: Mit welchen Mitteln man Zuversicht herbeiholt und die Nervenverbindungen elastisch und deshalb empfangsbereit macht für „das Neue", ist unerheblich. Man kann rund um die Uhr Spaghetti oder dunkle Schokolade essen oder beten oder singen oder sich virtuell in eine Baumkrone setzen. Alles was uns befreit von Zweifel und Kleingeist, ist wirksam und beseitigt unsere „Hirngespinste", also die Verhärtungen unserer Nervenverbindungen.
Ich habe mit Bildern aus unserer Kulturgeschichte gearbeitet, weil ich an das Heilende in der Kunst glaube und weil dieser reiche Fundus einfach ganz natürlich und ohne großes Organisieren zur Verfügung stand. Wie an einem Silberfaden konnte ich alles, was mich berührt und in der Seele ordnet und versöhnlich macht, zu mir ins Spitalbett hereinziehen, ohne je loszulassen. Es war ein permanenter Prozess der Rückbindung oder Religion an mein Innerstes. Harmlose Kinderlieder, Melodie- oder Textfetzen, Gleichnisse, die mir meine Mutter erzählt hat, Erinnerungen an Theater-, Film- und Opernaufführungen, das Heraufbeschwören von Bildern aus der abendländischen Malerei, Symbole, Mythen, Fabeln und „Zeichen", die uns quer durch den gewöhnlichen Alltag heimsuchen, einfach alles was hilft, war mir willkommen.
Dann haben diese heilenden Bilder im Zusammenwirken mit der Schulmedizin das Wunder vollbracht?
Edith Gloor: So ist es. Mit heilenden Bildern allein kann ich nicht direttissima das Gehirn neu programmieren, zumindest dann nicht, wenn es um das Installieren muskulärer Körperfunktionen geht. Aber auch die Schulmedizin kann mit ihrem größten Wissen nichts ausrichten, wenn ich nicht auf mentaler Ebene die für den Genesungsprozess idealen Bedingungen schaffe. Wunder geschehen wahrscheinlich immer durch die Vermählung von Gegensätzlichem.
Das Cover Ihres Buches ziert eine vertikal hochkriechende zarte Schnecke. Ist sie ein Sinnbild für Ihre gefühlte Geschwindigkeit, mit der Ihre Gesundung voranging?
Edith Gloor: Ja. Ich, die ich immer zu schnell und zu vorlaut war, musste und durfte lernen, wie segensreich und fruchtbar ein langsamer, unspektakulärer Prozess sein kann. Die Schnecke, es handelt sich um einen Ausschnitt aus dem Bild „Verkündigung" von Francesco del Cossa, macht sich schon mal auf den Weg, um rechtzeitig zu Christi Geburt in Bethlehem zu sein. Und sie wird rechtzeitig ankommen! Dass sie hier auf dem Cover anders als im Original, in der Vertikalen hochkriecht, hat damit zu tun, dass sie Sinnbild sein soll für den Aufrechten Gang.
Der Untertitel Ihres Buchs heißt ‚Meine Weltenreise von der Querschnittlähmung zum aufrechten Gang‘. Durch wie viele und durch welche Welten sind Sie geschritten?
Edith Gloor: Es waren Ausflüge zu eben jenen oben erwähnten imaginären Zauberinseln aus dem Pool der abendländischen Kulturgeschichte; es waren Ausflüge in die oft groteske und doch segensreiche Realität des Klinikalltags, dann auch Adrenalinschübe an Foltergeräten in der Physiotherapie, Expeditionen in die verschlungenen und geheimnisvollen Wege unseres Gehirns; es waren Einblicke in die Biografien meiner Mitpatienten, auch die Erkenntnis, dass unser Körper ein Wunder ist. Und ich habe erfahren, dass Menschen unmittelbar neben mir sterben.
Ein aufrechter Gang bedeutet für Sie weit mehr als nur ein tragender Rücken oder stabile Beine. Sie haben gesagt: „Ich hege keine Erwartung, dass ich je wieder aufrecht gehen kann. Aber ich entscheide mich dafür, aufrecht gehen zu lernen."
Edith Gloor: So wie ich das verstehe, ist der aufrechte Gang eine innere Haltung. Und diese ist unabhängig davon, um wie viel Grad mein Körper von der totalen Vertikalen abweicht. Allein das Aufbrechen und „sich auf den Weg machen" um das Neue, das da kommen will, zu empfangen, zählt. Ich kann nicht über mein Schicksal entscheiden. Aber ich kann darüber entscheiden, „wie" ich mit dem vom Schicksal Angebotenen umgehe, ob ich Gastgeber für Angst- und Horrorszenarien oder Gastgeber für schöpferische Fantasien sein will. Wenn man diesen Entscheid gefällt hat, erfolgt im besten Fall das, was die Griechen Katharsis nannten.
Heute stehen Sie wieder selbstständig auf ihren Füßen. Ist das ein ‚anderes Stehen‘ als vor der Erkrankung?
Edith Gloor: Ja. Transformation beginnt am tiefsten Punkt, genau dann, wenn man am schwächsten und elendesten ist. Ich habe gelernt, demütig und dankbar zu sein und ich habe versucht, alle Eitelkeiten abzulegen. Das verändert von Grund auf den Blick auf die Dinge. Mein „anderes Stehen" ist vermutlich Ausdruck und Abbild dieser neuen Relationen. Ich bin nicht mehr bloß Kraft meines eigenen Willens im aufrechten Gang. Oft habe ich die Empfindung, als „würde ich aufgerichtet".
Natürlich übe und übe ich immer noch täglich. Ich nenne das „Gassi gehen", ohne Hund. Das irdische Tun ist eben so wichtig wie die geistige Arbeit.
Trotz ihrer dramatischen Situation wirken Sie in Ihrem Buch äußert tatkräftig, diszipliniert, energiegeladen und oftmals heiter? Woher haben Sie diese Kraft genommen?
Edith Gloor: Aus meiner Spiritualität und Religiosität. Wann immer ich abzusaufen drohte, konzentrierte ich mich, nicht zögerlich, eher reflexartig, auf das Herbeiholen von „Frieden im Kopf". Wenn der Einstieg in diesen Frieden nicht herzustellen war, benutzte ich einen Trick, indem ich zuerst Worte mit schönem Inhalt aneinanderreihte und mir diese dann bildhaft vorstellte. Ganz einfach konnte ich dann übergehen zu einem Gebet oder zum Zitieren einer schönen Gedichtzeile oder dem inneren Hören einer bestimmten Sequenz aus einem Musikstück. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne bemerken, dass ich den zum heutigen Kulturkanon gehörenden trendigen Trash in der Kunstszene als fatal einschätze, weil ich nun weiß, was er in unseren Köpfen anrichten kann.
Glauben Sie, dass in jedem von uns schöpferische und transformatorische Möglichkeiten stecken, um Lebenssituationen auch abseits von Krankheit mit unseren Gedanken beeinflussen zu können?
Edith Gloor: Ja. Das glaube ich. Vermutlich drängt unsere Seele danach, sich stetig zu wandeln und neu zu gestalten. Wir sind ja eingebunden in die Naturgesetze der Evolution. Deshalb können sich scheinbar unüberwindliche Nöte und Probleme körperlicher oder psychischer Art oft als chancenreiche Herausforderung entpuppen und uns im Nachhinein stärker, zufriedener und versöhnlicher zurück ins Normalleben entlassen. Gedanken sind nicht nichts. Wie und was ich denke, beeinflusst manifest den Lauf der Dinge. Im Privaten und im Kollektiven. In der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft.
Sie sind Autorin von Hörspielen, Theaterstücken und Filmdrehbüchern. Arbeiten Sie schon wieder?
Edith Gloor: Zurzeit arbeite ich mit dem Regisseur Leopold Huber und dem Seeburg-Theater an einem Theaterprojekt. Der Titel dieser Revue durch Zeit und Geist heißt „SAGA ITTINGEN" und verrät, dass es, wie so oft in meinem Leben, um Mythos und Geschichte und eben Wandlung, geht. Uraufführung ist im Februar 2016 in der Kartause Ittingen/CH.