Zumindest in Deutschland hat der Bewusstseinswandel die bürgerliche Mitte erreicht: Die Partei der Grünen ist der klare Sieger der letzten Wahlen und erreichte in den Großstädten nahezu die Hälfte aller Wähler. Was bedeutet das für uns alle?
Das Wahlergebnis ist ein positives Signal für unsere gemeinsame Zukunft. Es zeigt, dass im Zentrum unserer industrialisierten Welt ein neues Bewusstsein im Wachsen begriffen ist. Die Menschen betrachten sich selbst und die gesamte Menschheit nicht länger als außerhalb und über der Natur stehend. Und die Natur wird nicht mehr nur als Landschaft begriffen, die unsere Städte und Gemeinden umgibt, sondern als entscheidende Lebensgrundlage unserer Existenz. Diese Natur ist die Grundlage unseres Lebens, ebenso wie sie die Grundlage für alles Leben auf diesem Planeten ist. Vielleicht werden wir die Umwelt nun nicht länger als einen „externalen Effekt" betrachten, als einen zusätzlichen Kostenfaktor, der den wirtschaftlichen Gewinn schmälert.
Wenn dieser Trend anhält, wird das nicht nur zu mehr Umweltbewusstsein führen, sondern es werden auch mehr Taten folgen, um diese Lebensgrundlagen zu erhalten. Nachhaltigkeit wird zu einem Grundsatz werden. Und mit Nachhaltigkeit meine ich, unsere Lebensgrundlagen zu achten, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch bei unseren Mitmenschen auf allen fünf Kontinenten.
Niemand kann mehr die Augen davor verschließen, dass Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche, Überschwemmungen und Erdbeben drastisch zunehmen, für manche wirken Häufigkeit und Intensität auch in Europa beängstigend. Sehen Sie einen Zusammenhang zu der von Ihnen proklamierten „Worldshift 2012"?
Manche Leute meinen, dass unser kollektives Bewusstsein ebenfalls Einfluss auf den Planeten nimmt. Das ist durchaus möglich, aber ich denke nicht, dass dies nachgewiesen ist oder nachgewiesen werden kann. Und doch besteht ein Zusammenhang zwischen den jüngsten Naturkatastrophen und der kommenden Weltenwende. Die Natur fördert durch solche Katastrophen genau das Bewusstsein, das wir benötigen, um eine wirksame Weltenwende zu erreichen — selbst wenn solche Ereignisse scheinbar „zufällig" geschehen. Die menschliche Gesellschaft erkennt allmählich, dass wir nicht die Herrscher über die Natur sind und dass unser Leben nicht unabhängig von den Vorgängen auf diesem Planeten betrachtet werden kann. Wir erkennen, dass wir alle eine Familie sind und auf einem Planeten leben und dass unser Leben und unser Wohlergehen in hohem Maße von dem Zustand dieses Planeten abhängen. Das Leben ist kein „Selbstläufer" in dieser Welt, sondern es ist ein verwundbarer „Balanceakt", bei dem jedes lebende Ding ein sich selbst regulierendes Gleichgewicht besitzt, das Physiker das Fließgleichgewicht nennen. Das kann man sich etwa so vorstellen wie ein Zirkuskunststück, bei dem mehrere Akrobaten eine Pyramide bilden; dabei muss sich jeder Akrobat konstant an die kleinste Bewegung aller anderen anpassen. Der Planet ist ein solches „Kunststück" — wir müssen die biologischen Prozesse auf unserem Planeten als konstanten und grundlegenden Faktor berücksichtigen, wenn wir überleben wollen. In dieser Hinsicht helfen uns die neuen Naturkatastrophen eine realistischere und profundere Art des Denkens zu entwickeln — eine Denkweise, die unser heutiges Leben und das Leben der zukünftigen Generationen sichern kann.
Die Welt fühlt mit Japan und hofft, dass es gelingen mag, das Schlimmste doch noch zu verhindern. Warum passiert diese Reaktorkatastrophe gerade in diesem Land und was ist die Lehre für die Menschheit?
Es gibt keine Antwort auf die Frage, warum sich diese große Naturkatastrophe gerade in Japan ereignet hat — sie hätte überall auf der Welt, wo tektonische Platten aufeinander stoßen und sich aneinander reiben, geschehen können. Aber aus der Tatsache, dass es in Japan geschehen ist, können wir besonders eindrückliche Lehren ziehen. Japan ist eines der am höchsten industrialisierten Länder der Welt. Diese Industrialisierung bringt einen konstanten, hohen Energiebedarf mit sich. Japan hat sich dabei für einen hohen Anteil an Atomkraft entschieden. Nur durch diese „sichere" Energieversorgung war die Entstehung solch urban-industrieller Megakomplexe wie das Gebiet Tokio-Yokohama mit über 23 Millionen Einwohnern möglich. Hier konzentrieren sich einige der führenden Industriezweige der Welt. Diese Entwicklung brachte enormen wirtschaftlichen Gewinn; doch sie bedeutete auch eine beinahe vollständige Loslösung von den natürlichen Gegebenheiten der japanischen Inseln. Das Leben auf diesen Inseln basierte damit zunehmend auf einer künstlichen Umgebung, die durch künstliche Energiequellen gespeist wurde. Ich bezeichne die nukleare Energie als „künstlich", weil sie in der Natur selbst nicht vorkommt. Natürlich ist der Atomkern Teil der physikalischen Grundlagen des Universums, doch die durch die Spaltung des Atomkerns freigesetzte Energie ist keine in der Biosphäre des Planeten natürlich vorkommende Energieform: Sie ist eine fremde, künstliche Energie. Die Abhängigkeit von solch künstlichen Ressourcen bestimmt unsere gesamte moderne Zivilisation. Sie ist Folge der Überzeugung, dass wir „der Natur ihre Geheimnisse entreißen" und sie zu unserem Nutzen einsetzen sollten — wie es Sir Francis Bacon schon vor 250 Jahren formulierte. Diese Strategie ist jedoch grundsätzlich gefährlich. Es wird Zeit, dass wir das erkennen. Die Lehre aus dieser Katastrophe sollte uns allen klar sein: Wir sollten unser Leben auf den reichen Gaben unserer natürlichen Umwelt aufbauen und vorsichtig damit sein, in das Netz des Lebens Elemente einzubringen, die dort nicht hingehören, seien es Energieformen oder neuartige Moleküle, die uns die moderne Chemie liefert (es handelt sich dabei um künstlich erzeugte Substanzen, die unser Leben bequemer und einfacher machen, aber Luft, Wasser und Erde verschmutzen).
In Ihrem Buch „Weltwende 2012" entwerfen Sie eine Zukunftsvision der zufolge eine grüne Wirtschaft, eine neue Politik und ein höheres Bewusstsein zusammenwirken. Welche Beispiele gibt es, für diese Vision bereits heute, in welchen Ländern?
Der Aufschwung einer verantwortlichen Lebensweise ist ein beinahe universales Phänomen. Es betrifft nicht nur bestimmte Länder oder geografische Gebiete; dieses Bewusstsein tritt überall dort auf, wo sich die Menschen eine einfache und grundlegende Wahrheit bewusst machen: dass wir das, was wir anderen und unserer Umwelt zufügen, auch uns selbst zufügen. Natürlich ist dieses Bewusstsein in manchen Teilen der Welt stärker ausgeprägt als in anderen — zum Beispiel finden sich in den USA in Kalifornien mehr Menschen, die so denken, als in Indiana oder Texas. Der Anstieg eines „neuen paradigmatischen Denkens" (und Lebens) zeigt sich in vielen Statistiken; er zeigt sich der Nachfrage nach biologisch angebauten Nahrungsmitteln und Produkten und in einem Anstieg der Investments in „grüne" Industrien sowie in der Nachfrage nach alternativen Lebens- und Wohnprojekten. Dieser weltweite Trend verläuft im Moment noch ungleichmäßig, entwickelt sich aber beinahe überall rapide.
Was ist das Wichtigste was die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft jetzt sofort tun müssen?
Meiner Überzeugung nach brauchen wir das, was ich als einen „Führungswechsel" bezeichne — eine neue Philosophie unserer Führungskräfte. In einer demokratischen Welt folgt die politische Führung den Wünschen des Volkes — „Demokratie" bedeutet nach seinem griechischen Ursprung schließlich auch „Herrschaft des Volkes". Nicht die Führung oktroyiert dem Volk ihren Willen. Doch diese politischen Führer können noch mehr tun: Sie können dazu beitragen, dass eine Volksgemeinschaft (demos) entsteht, die die Weisheit besitzt, sich selbst zu „führen" — und das gut. Das ist eine Aufgabe für Führungskräfte, die Erzieher im wahren Sinne der Wortes sind — keine Ausbilder, die erwarten, dass andere das lernen und annehmen, was sie selbst sagen, sondern Lehrer im Sinne der großen Lehrmeister der Vergangenheit: herausragende Persönlichkeiten, mit klaren ethischen Werten, engagierte Individuen, die den Weg in eine lebenswerte Zukunft weisen und die Menschen in die Lage versetzen, sich auf diesen Weg zu machen. In unserer modernen Welt bedeutet dies, dass sie über die grundlegenden Prozesse und Strukturen unserer Welt aufklären und dabei die Medien und die zur Verfügung stehenden Bildungssysteme nutzen. Und sie informieren und lehren nicht nur, sondern sie sind das Vorbild, dem andere folgen können.
Führungskräfte sind keine Ärzte, die ihrem Patienten das richtige Heilmittel verordnen, sondern sie sollten die Vorbilder sein, die die Menschen inspirieren. Gandhi formulierte das so: „Wir müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen wollen."
Die unmittelbare und dringende Aufgabe besteht darin, den Menschen eine neue Vision zu vermitteln. Diese Vision war die Grundlage der großen Weisheitslehren und sie ist auch die Grundlage der neuesten Fortschritte in den Naturwissenschaften: Wir sind Teil der dynamischen Prozesse und wir sind Teil des fragilen Gleichgewichts im Netz des Lebens auf diesem Planeten. Wir alle müssen zumindest die grundlegenden Fakten kennen, die unser Leben erst möglich machen. Nur dann können wir alle gut und vernünftig leben, ohne unseren Mitmenschen und unserem Planeten zu schaden.