Wie wichtig ist die Zeit vor der Geburt? Wie beeinflussen uns die Erlebnisse im Mutterleib? Immer mehr Forscher sind überzeugt: Hier wird ein guter Teil des Drehbuchs geschrieben, das unser Leben bestimmt.
Während der Zeit im Mutterleib werden die Weichen für unsere spätere körperliche und mentale Gesundheit gestellt - das ist zumindest das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungen des amerikanischen Psychologen Dr. Arthur Janov. Ein wichtiger Faktor dabei: der Stress der werdenden Mutter.
40 Wochen wächst das Ungeborene Kind im Körper seiner Mutter heran. Über die Nabelschnur hängt es an ihrem Blutkreislauf und an ihrem Stoffwechsel. Obwohl bereits ein eigenes Wesen, ist es doch Teil des mütterlichen Organismus. Damit Schadstoffe nicht ungefiltert von der Mutter auf das Kind übergehen, hat die Natur eine Barriere zwischengeschaltet: die Plazenta, auch Mutterkuchen genannt. Hier werden nicht nur Giftstoffe zurückgehalten, sondern auch das Stresshormon Cortisol. Ein Enzym bewirkt, dass das Stresshormon unschädlich gemacht wird. Schüttet der mütterliche Organismus jedoch sehr hohe Dosen Cortisol aus, kann der Schutzwall brüchig werden und das Kind bekommt Stress.
Vor ungefähr 20 Jahren hat die Wissenschaft damit begonnen, den vorgeburtlichen Einfluss auf das ungeborene Kind zu erforschen. Mittlerweile gilt die „pränatale Programmierung" als bewiesen. Man geht sogar davon aus, dass die Einflüsse aus dem Mutterleib das kindliche Erbgut epigenetisch prägen und entsprechend an die nachfolgenden Generationen weitergereicht werden.
Im Universitäts-Klinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) läuft derzeit eine Langzeitstudie zur vorgeburtlichen Prägung. Hier werden die Einflüsse des mütterlichen Lebensstils auf die körperliche und seelische Gesundheit des Kindes untersucht. Nicht nur in Deutschland, auch in Großbritannien und den USA sollen umfangreiche Studien zum mütterlichen Einfluss auf die Gesundheit des werdenden Lebens zum Beispiel auch dazu beitragen, die Entstehung von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Adipositas zu verhindern.
Dass die mütterliche Ernährung weitreichende Auswirkungen auf die Gesundheit ihres Kindes hat, darüber sind sich Wissenschaftler im In- und Ausland einig. Relativ neu ist jedoch die Erkenntnis, dass auch negative Gefühle und dauerhafter Stress während der Schwangerschaft ihre Spuren beim Nachwuchs hinterlassen. So sieht die New Yorker Psychologin Catherine Monk den Ursprung vieler depressiver Erkrankungen in Erlebnissen im Mutterleib. Entsprechenden Untersuchungen zufolge reagieren Kinder depressiver Mütter bereits in utero empfindlicher auf Stressreize als Kinder mental stabiler Mütter.
Die Reproduktionsimmunologin Petra Arck leitet seit 2010 eine Arbeitsgruppe zur experimentellen Feto-Maternalen Medizin. Ihrer Meinung nach könnte mütterlicher Stress während der Schwangerschaft für eine spätere Allergiebereitschaft beim Kind verantwortlich sein. Um diese These zu untermauern, führte sie Tierversuche an trächtigen Mäusen durch, die sie mit Wühlmausvertreibern aus dem Elektronikmarkt traktiert. Der Nachwuchs dieser „Stress-Mäuse" zeigt ganz eindeutig asthmaähnliche Symptome.
Ein weiterer Pionier auf diesem Gebiet, der neuseeländische Wissenschaftler Peter Gluckman, hält die fetale Prägung mittlerweile für ebenso wichtig wie die genetische.
Der US-amerikanische Psychologe Dr. Arthur Janov beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem mütterlichen Einfluss auf das werdende Leben. In seinem neuen Buch „Vorgeburtliches Bewusstsein - das geheime Drehbuch, das unser Leben bestimmt" fasst er seine Erkenntnisse und therapeutischen Erfahrungen auf 350 Seiten zusammen. In der Schwangerschaft, so Janov, gebe die Mutter ein hohes Maß an neurochemischer Information an das heranwachsende Kind weiter. Ihre Befindlichkeit verursache Schwankungen im Hormonhaushalt, die sich auf das Kind auswirkten. Sei die Mutter beispielsweise nervös, dann verändere sich ihr Hormonhaushalt.
In Folge stelle sich der Fötus darauf ein, nach der Geburt die gleichen Bedingungen vorzufinden wie im Mutterleib. Produziert der mütterliche Organismus große Mengen des Stresshormons Cortisol, dann stellt sich das Ungeborene auf eine Welt ein, die furchterregend und bedrohlich ist. Die gesamte kindliche Physiologie und Neurologie passt sich den mütterlichen Schwankungen an. Daher sei die liebevolle Beziehung zwischen Mutter und Kind so wichtig. Fehle die Liebe zum Fötus, dann bekäme das Kind auch physisch nicht genügend Nährstoffe und könne sich nicht optimal entwickeln.
Dr. Janov geht davon aus, dass es für die Befriedigung essenzieller Bedürfnisse ein Zeitfenster gebe, in dessen Rahmen diese erfüllt werden müssten. Geschehe dies nicht, so bestehe ein lebenslanges Defizit, das im späteren Leben nicht mehr vollständig behoben werden könne. So hat er festgestellt, dass ernsthaftem Drogenmissbrauch oft ein Mangel in der frühesten Kindheit vorausgehe.
In neurologischer Hinsicht, so Janov, bewirkten Zuneigung und Ruhe der Mutter während der Schwangerschaft nicht nur eine Stärkung des kindlichen Gehirns, sondern sie förderten auch die Bildung von Rezeptoren für körpereigene Opiate - Endorphine - , die es dem Kind ermöglichten, mit Schmerz besser zurechtzukommen, sodass es im späteren Leben in der Lage sei, mit Stress und sonstigen Schwierigkeiten umzugehen. Das heißt: Je besser die Bedürfnisse des Kindes bereits im Mutterleib befriedigt werden, desto gesünder und glücklicher wird es aller Voraussicht nach werden und desto mehr intellektuelle Fähigkeit wird es entwickeln.
Stress während der frühen embryonalen Entwicklung hat gravierende Auswirkungen auf die Gene. Er führt dazu, dass die (epi-)genetische Codierung jeder einzelnen Zelle verändert. Frühe Traumata, so Janov, veränderten somit die zellinterne Chemie und würden im Gedächtnis der Zelle abgespeichert. Stress oder Primärschmerz würden sich demnach tief in die Grundstruktur der Zellen einbrennen und das Immunsystem dauerhaft schwächen. Hier, so Janov, könnte auch eines der Geheimnisse um die Entstehung von Krebs zu suchen sein. Eine sehr gewagte These.
In einer Studie des Imperial College in London aus dem Jahr 2007 konnte immerhin nachgewiesen werden, dass die Übertragung eines hohen Cortisolspiegels von der Mutter auf das Kind einen niedrigeren IQ, Ängste, AD(H)S und Depressionen begünstigen kann. Suzanne King, Professorin für Psychologie an der McGill University erklärte anlässlich der Royal Society Summer Science Exhibition 2009:„Wir alle sind uns darüber einig, dass der Fötus ungemein empfindlich und verletzlich ist. Selbst geringfügige Stimmungsschwankungen der Mutter haben messbare Auswirkungen, die über Jahre anhalten können."
Welche Konsequenzen sollen wir aus diesen Erkenntnissen ziehen? Darüber herrscht unter Ärzten und Wissenschaftlern Uneinigkeit. Eine der wahnwitzigsten Ideen ist die Forderung, übernervösen oder depressiven Schwangeren Beruhigungsmittel oder Antidepressiva zu verordnen, wie es zum Beispiel von der Reproduktionsimmunologin Petra Arck gefordert wird.
Durch einen solchen Ansatz würde man vermutlich mehr Schaden anrichten als alles andere, denn dies hätte zur Folge, dass die jeweiligen Wirkstoffe über die Plazenta in den kindlichen Blutkreislauf gelangten und dessen Hormonhaushalt durcheinanderbrächten.
Albert Hollenbeck, Spezialist für vorgeburtliche Entwicklung, kam anlässlich einer Studie zu dem Ergebnis, dass alle Drogen, die eine Schwangere zu sich nimmt, die Neurotransmitter-Konstellation beim Kind nachhaltig verändern. Dabei scheinen die Erwachsenen Kinder zeitlebens zu versuchen, die Auswirkungen dieses chemischen Eingriffs zu kompensieren: Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft Beruhigungsmittel genommen haben, zeigen später einen erhöhten Missbrauch von Amphetaminen (Aufputschmitteln). Umgekehrt besteht die Gefahr des Beruhigungsmittel-Missbrauchs, wenn die Mutter in der Schwangerschaft vermehrt Stimulanzien wie Kaffee, Kokain oder koffeinhaltige Getränke konsumiert hat.
Ähnliches gilt für Kinder, die im Mutterleib Kontakt mit Antidepressiva wie Prozac® oder Zolo® hatten: Bei ihnen wurde bereits im Alter von drei Jahren eine verstärkte Neigung zu Traurigkeit und zurückgezogenem Verhalten festgestellt. Der Grund: Ihr Serotonin-Spiegel wurde bereits in utero dauerhaft verändert.
Sogar die Schmerzmittel bei der Geburt stellen offenbar einen bleibenden Eingriff in das System des Kindes dar: Lokalanästhetika wie Lidocain, die zur Erleichterung der Geburt verabreicht werden, können nach Hollenbeck eine dauerhafte Verhaltensänderung beim Kind nach sich ziehen. Zudem steigt das Suchtrisiko: Je mehr Schmerzmittel eine Frau während der Wehen bekommt, desto höher ist die statistische Gefahr, dass ihr Kind im späteren Leben zu Alkohol- oder Drogenmissbrauch neigt.
Recht einleuchtend werfen andere Forscher deshalb ein, dass ein medikamentöser Eingriff völlig kontraproduktiv wäre und es sehr viel sinnvoller ist, Schwangere gesellschaftlich und familiär so zu unterstützen, dass sie immerhin die besten Bedingungen haben, die Schwangerschaft ohne nennenswerten Stress durchleben zu können. Das ist allerdings auch keine besonders neue oder originelle Erkenntnis. Und vor allem, so wird auch betont, sollte man Mütter mit den Erkenntnissen über pränatale Programmierung nicht überfordern: Das Bewusstsein, keinen Stress empfinden zu dürfen, um dem Kind im Bauch nicht zu schaden, erzeugt auch wieder nur Stress, der dem Ungeborenen schadet.
Aus all diesen Studien und Untersuchungen geht zumindest eines hervor: dass das ungeborene Leben äußerst fragil und verletzlich ist. Eingriffe, egal welcher Art, sollten sorgsam erwogen und wenn möglich vermieden werden, sodass sich das Kind optimal entwickeln kann.
Für Mütter bedeuten die Erkenntnisse eine Erinnerung an die Verantwortung, die sie gegenüber dem ungeborenen Kind tragen. Anlass genug, vielleicht auch den eigenen Lebenswandel und die Prioritäten noch einmal einer Überprüfung zu unterziehen. Als Gesellschaft sollten die Erkenntnisse zu einer breiten Unterstützung für Schwangere führen. Nicht umsonst wurde die Schwangerschaft in vielen Indigenen Völkern sehr ernst genommen und schwangere Frauen hatten zum Teil einen besonderen Status inne. Es galt, sich auf die ankommende Seele vorzubereiten und ihr eine gesunde und freudige Ankunft zu bereiten. Nun rät uns die moderne Wissenschaft, es ganz ähnlich zu handhaben.